Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

II. Von den Untergründen des Lebenskampfes

Machtverherrlichung

Die Moral alles in den letzten Abschnitten Gesagten ist vom Standpunkt des persönlichen Lebens die, dass es in den meisten Fällen das Nicht-Erkennen des unpersönlichen Charakters der Untergründe des Lebens und die daraus folgende falsche Behandlung ist, welche den Menschen so leicht schlecht und böse macht. In der Tat: so viele wirklich und unabänderlich schlechte Menschen, wie Erfahrung dies zu erweisen scheint, gibt es gar nicht. Es existiert aber ein anderer Aspekt der Unterwelt, der, vom Geiste her beurteilt, unabhängig von aller Verbildung durch Missdeutung böse erscheint: ich meine hiermit alles, was dem Ur-Hunger zugehört, dem dynamischen Gegenpol der Ur-Angst, der Mutter von Besitz und Recht (SM, II). Dieser Ur-Hunger ist die eigentliche Triebkraft alles Wachstums und alles Fortschritts. Nie erkennt er irgendeine Grenze oder Schranke, die ihm gesetzt wird, als endgültig an. Er ist wesentlich angreiferisch und unersättlich, der geborene Todfeind aller Sicherung; sein Element ist das Risiko, das Unendliche sein nie erreichtes Ziel. Damit ist ein Urkonflikt gegeben mit allem, was zum Bereiche von Besitz und Recht gehört, welcher nie ein für alle Male auszutragen, nie endgültig zu erledigen ist, da eben Leben wesentlich Gleichgewichtsmangel bedeutet. Und so hoch das Niveau immer sei, auf welchem der Kampf sich abspielt: nie verliert er seinen ursprünglichen Sinn.

Hiermit wären wir bei derjenigen Wahrheit angelangt, die Idealisten in üblichem Verstand von allen am wenigsten munden dürfte: alle Änderung, alles Wachstum und aller Fortschritt hat seine vitale Wurzel, die ja allein die erdgeborenen Triebkräfte speist, im Ur-Hunger und in keinem Ideal. Was von der Eroberung gilt, ist genau so wahr vom friedlichsten aller Fortschritte. Aller Fortschritt bedeutet irgendwie Raub oder Mord oder Ausbeutung oder Knechtung anderer; sein Weg geht unabwendbar über Leichen. Große Neuerer, deren Namen die Geschichte feiert, waren erfolgreiche Rechtsbrecher, welche auf der Grundlage von Zerstörtem Neues und Dauerhaftes aufbauten. Verbrecher sind die Rechtsbrecher, welche scheitern, ob aus Talentlosigkeit oder Mangel an Glück oder an Neu-Aufbauwillen; der Verbrecher, dessen Begriff jedem unwillkürlich vorschwebt, wenn er das Wort braucht, ist freilich wesentlich minderwertig, aber es ist eine minderwertige Varietät eben des Ausnahmemenschen, dessen Grundtypus auch das Genie, der Held und der Heilige zugehören: dies ist der Wahrheitskern von Lombrosos verfehlter Theorie. Auch er ist ein Vertreter des Ur-Hungers im Gegensatz zum Vertreter der Ur-Angst, als welcher niemals neuerungsfähig ist. Und in wem nicht der Ur-Hunger dominiert, wird nie das Antlitz der Erde zu verändern streben. Er muss zerstören und insofern Böses wollen. Denn soll das Wort böse den Sinn behalten, welchen jeder nicht verbildete Mensch ihm unwillkürlich beilegt, dann hat der Zerstörer als solcher auch als böse zu gelten, gleichviel zu welchem Guten das Böse als Mittel diene. Vom Standpunkt des Geistes und der geistigen Gesinnung kann zwischen Zweck und Mitteln nie geschieden werden; unlösbar gehören sie zusammen. Allenfalls darf man einen Menschen ausschließlich nach den Mitteln beurteilen, welche er benutzt, denn selten werden die angestrebten Ziele erreicht, wogegen jedes angewandte Mittel den eigensten Stempel des Unbewussten trägt, das sich dafür entschied.1

Auf der Ebene des Menschentums tritt der Weg des Ur-Hungers als das in die Erscheinung, was man Politik heißt. Man muss nämlich scharf zwischen Politik und Staatskunst unterscheiden. Letztere, die im Kapitel über das Leben als Kunst eingehende Behandlung erfahren wird, stellt einen, wenn nicht den Höchstausdruck geistigen Schöpfertums dar, denn keine Materie ist schwerer vom Geist her zu gestalten, als die der menschlichen Triebe, Interessen und Leidenschaften in ihrem massiv-kollektiven Zusammenwirken. Aber die eigentliche Politik — wir haben sehr wohl das Recht, trotz Aristoteles, den Begriff so zu verwenden, wie hier geschehen wird, denn der übliche Begriff des modernen Politikers entspricht genau dem Sinn, welchen wir hier seiner Betätigungsart geben, nur erweitern wir sinngemäß seinen Umfang — die eigentliche Politik ist eine gänzlich un-ideale, eine reine Unterwelts-Angelegenheit. Sie ist, wie wir schon sagten, der Weg des Ur-Hungers, soweit dieser sich durch menschliches Bewusstsein hindurch äußert. Demgemäß treiben der Staatsmann, der Geschäftsmann, der Stratege genau im gleichen Sinne Politik. Ihnen allen bedeutet sie genau das gleiche: die angemessene Methode, Wachstum zu ermöglichen. Denn solange Leben vital ist, will es wachsen: reine Sicherungs-Politik bedeutet, wo sie ehrlich nur das ist, allemal den Anfang vom Ende. Insofern nun Politik den Ur-Hunger dessen Normen gemäß auswirkt, ist sie durchaus darauf angewiesen, mit Unterweltsmotiven zu operieren, so ideal die Ziele immer seien, die in den Dienst dieser Motive gezwungen werden. Und die Motive der Unterwelt widersprechen allesamt idealer Geistesnorm. Man muss vergewaltigen wollen, wenn man siegen will, ob als Feldherr, Staats- oder Geschäftsmann; man muss den Untergang des Gegners wollen, und Untergang ist Untergang, handele es sich um Tod, Ruin, Entmachtung oder Versklavung; aller Wille zur Zerstörung aber ist böse. Man muss auch alle die Mittel grundsätzlich bejahen und anzuwenden bereit sein, die am schnellsten zum Siege führen. Es bedeutet bei jedem denkfähigen Menschen bewussten Selbstbetrug, als welcher den Tatbestand noch schlimmer macht, wenn er sich das Dasein dieses vom Geiststandpunkt Bösen, das aller Politik unablöslich anhaftet, nicht eingesteht. Aber ganz ehrlich sind hier in der ganzen Menschengeschichte nur die alten Inder gewesen, als welche alle Politik als Brauch der Fische bezeichneten, gemäß welchem die größeren die kleineren fressen, und dieselbe durchaus der Animalität zurechneten; die altindischen Lehrbücher der Politik haben dementsprechend die Form von Tierfabeln (Pantscha-Tantra, Hitopadesha).2 Das Gesetz politischen Handelns, artha, stellten sie dem dharma, dem moralischen Gesetze, schroff gegenüber; artha aber entspricht ungefähr denn lateinischen res; es bezeichnet die Fülle des Realen, Geld, Besitz, Interesse, Zweck. Der Artha-Lehre gemäß ist die Macht eine rein materielle Angelegenheit. Ähnlich ehrlich sind im Abendland nur Hobbes und Machiavelli gewesen, und die Ähnlichkeit geht dabei weniger weit als es den Anschein hat: denn beide übertrieben den bösen Aspekt der Politik, weil sie zutiefst doch an christliche Voraussetzungen glaubten und diesen Glauben überschreien mussten. Vollends gilt letzteres von Nietzsches Machtverherrlichung. Dessen Aufruf zum wieder-böse-Werden klingt und war vollkommen unecht; starken Widerhall hat er nur deshalb finden können, weil die meisten Deutschen, welche nach einem neuen Verhältnis zu ihrem Untergründlichen streben, an ähnlichen Hemmungen leiden wie er. Hier sei nun zunächst abermals darauf hingewiesen, was erst später ausgeführt werden kann, dass Staatskunst ein Geistiges ist und damit ein wesentlich anderes als Politik. Den Eigen-Sinn der letzteren hatten die alten Inder vollkommen richtig verstanden. Alle Betätigung, die dem Machtzuwachs oder ihrer Verteidigung gilt, hat unterweltliche Wurzeln und muss, so sie gelingen soll, mit Unterweltsmotiven operieren. Doch Deutschen leuchtet diese Einsicht besonders mühsam ein: sie sind eben in Europa das Rechtsvolk par excellence. Im Lauf ihrer ganzen bisherigen Geschichte hat der gelegentliche und nie lang andauernde Machtkult allemal Überkompensation bedeutet, wie denn das seltsame französische Missverständnis, dass Deutschen Macht immer vor Recht gehe, der Perzeption eben dieser Überkompensation entspringt. Wahrscheinlich seit Jahrtausenden schon hat der typische Deutsche schlechtes Gewissen gehabt, sobald er reine Macht ausübte. Kaiser Friedrich II., der Hohenstaufe, berief sich allemal auf die Justitia, die er zu verkörpern meinte, wenn er extrem realistische und vielfach schier beispiellos grausame Gewaltpolitik trieb. Die gleiche Rücksicht bewog wohl Adolf Hitler, auf legalem Wege zur Macht zu gelangen. Die typische deutsche Macht-Angst erreichte von 1918 bis 1933, in welcher Zeit der sicherungsbedürftigste Deutschentyp das Staatsschiff lenkte, ihren bisherigen Höhepunkt. In Reaktion gegen diesen wuchs eine Minorität heran, welche überlegene Macht intuitiv als das erfasste, was sie ist: als Elementarmotiv für die Gana-Welt; denn die Gana will zwingen oder gezwungen werden; Freiheit kennt und schätzt sie nicht. Und siehe da! Das bloße Erkenntnis weniger entschlossener Legionen zur Macht als einem elementaren Lebens-Recht erzeugte in der Unterwelt bisheriger sturer Rechtsfanatiker so schlotternde Angst, dass in Wenigen Wochen und Monaten erreicht war, was aller Voraussicht nach nur in langen Jahren hätte erkämpft werden können. Doch das ist noch nicht alles: dieselbe Unterwelt erkennt Macht auch positiv als Vitalwert an: daher das unglaublich geringe Ressentiment, welches das Zerschlagen so vieler Lebensformen und Institutionen und vor allem das rücksichtslose Reden darüber — denn Worte bedeuten dem Bewusstsein viel mehr als Taten — ausgelöst hat. Wenn nicht alle Zeichen trügen, dann hat sich ein kaum glaublich hoher Prozentsatz der Besiegten des Besiegt-seins aufrichtig gefreut. Für die Unterwelt gibt es eben nichts Beglückenderes als Zwingen-können, aller Sadismus aber hat, entsprechenden Masochismus zum Korrelat. So wird denn gerade die bewunderte und verehrte Macht ursprünglich böse vorgestellt. Furchtbar sind alle frühesten Götter, grausam, unverlässlich, unberechenbar. Und dementsprechend wird der frühestverehrte Herrscher als der Mensch vorgestellt, welcher sich jedes Unrecht und jedes Verbrechen erlauben darf; spät erst verbindet sich sein Bild mit der Idee der Gerechtigkeit. Dieser Tatbestand ist es, welcher Jacob Burckhardt darauf brachte, Macht an sich böse zu heißen. Von deren höchstmöglichen Ausdruck gilt dies freilich nicht. Wohl ist Zwingen an sich, auf freie Wesen angewandt, ein Böses. Aber höchste Macht zwingt gar nicht mehr: sie wirkt durch Autorität, durch Ausstrahlung, die unwillkürlich verwandelt, den freien Willen der anderen mit dem ihren einend. Daher die Ur-Assoziation von Glanz und Macht, von Machtvollkommenheit und unnahbarer Hoheit. Doch die Macht, welche allein auf der Gana-Ebene (SM, VII), das heißt derjenigen, wo sich alle Politik abspielt, herrscht, ist freilich ein radikal Böses.

Denn Zwang und Freiheit, welche die ureigenste Lebensform des Selbstes ist, schließen einander aus. Unter Zwang kann keinerlei geistiges Schöpfertum, keine moralische Initiative, keine Selbstverantwortung gedeihen. Wer dagegen die Zeiten herrschender starrster religiöser Dogmatik und alle Freiheit verfemender Autokratie anführt, in denen doch Großes geleistet worden ist, verkennt, dass damals jeder Einzelne von der Wahrheit jener oder dem sakralen Rechte dieser persönlich überzeugt war. Nur der seltene Häretiker zweifelte in unserem Mittelalter an der christlichen Lehre, und heute noch zweifeln wenige Japaner daran, dass der Wille des Kaisers ihre persönlich letzte Gesinnungsinstanz bedeutet. Das Subjektive entscheidet überall, wo Freiheit die letzte Instanz zu sein beanspruchen darf. In diesem Sinne erwiderte einmal Gustave Flaubert, der sich in Paris gestört fühlte, auf eines Freundes Einwand, dass man ihn doch ganz in Ruhe ließe: il ne s’agit pas de ne pas être dérangé, il s’agit de ne pas pouvoir être dérangé. Von solchem Freiheitsgebot und solcher Freiheitsnotwendigkeit kann nun im ganzen weiten Reich der Unterwelt keine Rede sein. Hier herrschen Zwang und Drang, Trieb und dumpfe Abwehr. Und dies ergibt vom Standpunkt des freien Geistes unabweislich das Gesamtbild einer bösen Welt.

1 Sehr Gutes hierüber hat Nikolai Berdjajew in seinem Buch Von der Bestimmung des Menschen, Versuch einer paradoxalen Ethik, Bern Leipzig 1935, Gotthelf-Verlag, gesagt.
2 Vgl. die Abhandlung über altindische Politik und den Geist des Abendlandes in Heinrich Zimmers Indische Sphären o. e. 41 ff.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
II. Von den Untergründen des Lebenskampfes
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